London in den Fängen der Madam Gin

Obwohl Tee seit dem 17. Jahrhundert in England bekannt war, verfielen Londoner zu Beginn des 18. Jahrhunderts dem hochprozentigen Gin. Der kollektive Rausch, die Gin-Manie, begann 1689 als der Niederländer Wilhelm III. den englischen Thron bestieg. In Holland war Genever (Malzwein, Wacholder, Kräuter und Gewürze) seit langem beliebt. Je enger die Kontakte mit England wurden, desto mehr schwappte er über den Ärmelkanal und wurde hier kurz Gin genannt.

Als der neue König 1690 die Destillation von Alkohol aus Getreide legalisierte, gab er unbeabsichtigt den Startschuss zur Londoner Gin-Sucht. Wilhelm III. wollte eine heimische Alternative für Brandy ermöglichen, da durch seinen Krieg mit Frankreich dessen Importe entfielen. Ferner wollte er es Bauern ermöglichen ihre überschüssige Weizenproduktion an Destillerien zu verkaufen. Die rund 600.000 Londoner betranken sich aber immer mehr, sodass um 1720 etwa 10 Mio. Liter in ihren Kehlen versickerten. Viele Londoner waren bettelarm und versuchten im Rausch ihrem trostlosen Alltag zu entfliehen. Die englischen Brennereien mischten puren Alkohol mit Wasser, Terpentin, Schwefelsäure, Mandeln, Branntkalk, Rosenwasser und Alaun. War das Wässerchen zu sehr verdünnt (unter 40 %), schärfte man mit Pfeffer und Ingwer nach. Ein neues Phänomen der Gin-Manie war die öffentliche Trunkenheit von Frauen. Überall wurde Gin von fliegenden Händlern verkauft, in jeder Taverne ausgeschenkt und selbst kleine Gemüsehändler wurden zu Drogendealern. Der Adel beklagte grade wegen der „Madame Generva“ den Sittenverfall und machte Alkohol für die sozialen Missstände verantwortlich. Aber die größten Trunkenbolde waren die Reichen selbst, die sich seit eh und je betranken, da ja das Gesinde für sie arbeitete. Die Unterschicht eiferte nur den adeligen Vorbildern nach. Weil Frauen auch Gin verkauften und so ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit erwarben, schrillten bei der Oberschicht die Alarmglocken. Frauen drohten sich aus dem zugedachten Platz in der Gesellschaft zu lösen und so schimmerte der Zivilisationszerfall am bürgerlichen Horizont. Überdies beobachtete man erstmals, dass die Kinder der trunksüchtigen „Mother Gins“ eine hohe Quote an Fehlbildungen hatten. Nicht, dass die reichen Herren sich um die Betreuung der behinderten Kinder der Unterschicht sorgten, aber wer sollte nun die Kriege des Königs führen und auf den Schiffen der reichen Händler arbeiten?
1736 versuchte der Staat gesetzlich den Konsum einzuschränken. Aber die angedachten hohen Gebühren trieben die Gin-Industrie in die Illegalität und dort blühte sie noch stärker auf.

Als 1748, nach dem Erbfolgekrieg mit Österreich, 30.000 Soldaten in London demobilisiert wurden, zogen diese wochenlang betrunken durch die Stadt und ließen jeden selbernannten sittsamen Bürger um sein Leben fürchten. Wenig später wurde letztlich ein Gesetz verabschiedet, dass geringe Lizenzgebühren beim Ausschank erhob, die Brennereien besteuerte und die Kontrollmöglichkeiten verbesserte. Überdies fielen die Ernten um 1750 geringer aus als noch zu Beginn von Wilhelms Herrschaft, sodass kaum noch Getreide zum Brennen zur Verfügung stand. Aufgeschreckt durch diese Gin-Manie priesen immer mehr Mediziner und Pastoren die Vorteile des Tees.  

Mehr:
Patrick Dillon: Gin. The Much Lamented Death Of Madam Geneva – The 18th Century Gin Craze, London, 2020.

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