Mythos Earl Grey Tee


Nichts. So lautet das Fazit der Spurensuche zur Verbindung zwischen dem britischen Adeligen Earl Grey und seinem Tee. Grey war von 1830-1834 englischer Premierminister und war bekannt für seine zauderhaften politischen Launen. Während seines politischen Lebens änderte sich England von einer Agrar- in eine Industriegesellschaft. Er beendete Sklaverei und Kinderarbeit in England. Seine Regierung erhöhte den Anteil der wahlberechtigten Bevölkerung um 60 Prozent auf 200.000. Für all dies kennt ihn heute freilich niemand mehr. Dafür steht sein Name für einen Tee mit dem er nie etwas zu tun hatte.
Grade als reiner Mythos ist Earl Grey Tea ein Beispiel für die langjährige Wirkungsmacht von Werbung und dem Zusammenhang von sozialer Klasse und Teekonsum. Die Geschichten rund um den Earl Grey Tea spiegeln keine historische Realität wieder. Sie sollten es Kunden erlauben ihre  Bedürfnisse nach sozio-kultureller Verortung zu befriedigen. Folglich stellt sich die Frage, was wollen die Firmen uns Konsumenten mit Earl Grey Tea verkaufen? Im Fokus des Marketings steht nämlich nicht die Marke, sondern der ubiquitäre Name Earl Grey Tea.
Die verschiedenen Erzählungen zur Entstehung dieses Tees sind sich einig, dass er im 19. Jh. aus schwarzem chinesischen Tee und der mediterranen Bergamotte bestand. Die besten Earl Greys werden heute tatsächlich mit echter Bergamotte aus Kalabrien aromatisiert. Da für einen Liter Bergamotte-Öl aber 200 Früchte benötigt werden, besprühen Teeproduzenten minderwertige Tees mit Aromen aus Chemielaboren. In den 1830er Jahren waren fast alle Tees in Europa von schlechter Qualität. Viele Tees wurden mit anderen Zutaten gemischt oder gar mit gefährlicher Chemie behandelt. Da Bergamotte einen recht starken Beigeschmack hat, wurden besonders miese grüne China-Tees hiermit angereichert. Infolgedessen hatte Bergamotte als Aroma einen verheerenden Ruf. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen mit Bergamotte einen Tee zu bewerben.
2012 durchsuchte das ehrwürdige Oxford English Dictionary seinen gesamten Bestand nach „Earl Grey Tea“ und einschlägigen Synonymen. Sie stellten fest, dass 1884 das erste Mal der Begriff Earl Grey Tea Erwähnung fand – 40 Jahre nach dem Tod des Premiers. Bis in die 1920er Jahren hinein erhielt der Eintrag keinen Hinweis auf „allgemein Gebräuchlich“, was ein Indiz dafür ist, dass der Tee die ersten 30 Jahre eine Randexistenz war. Bei einer Konsumentenbefragung 2010 brachten die meisten Engländer Earl Grey Tea mit posh (vornehm, nobel) in Verbindung. Während des Ersten Weltkrieges wurde posh inflationär gebräuchlich. Es war ein Hauch von Snobbery. Diese Zurschaustellung von angeblichem Reichtum unterstützte interdependent den steigenden Teekonsum der unteren Klassen. Der namensinhärente posh Earl Grey Tea war ihr Vehikel zur sozialen Abgrenzung von noch ärmeren Engländern. Die innovativen Teehändler Horniman und Lipton waren Meister darin aus diesen sozialen Entwicklungen und kulturellen Bedürfnissen Kapital zu schlagen.

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