Englische Identität im Viktorianischen Tee

G.G. Sigmond, Professor der medizinischen und botanischen „Royal Society London“ sah bereits 1839, nach der Entdeckung von Tee in Assam, dass sich die englische Nation schicksalshaft mit allen ihren Bürgern hinsichtlich Identität, Wohlstand und Gesundheit an die Teepflanze gebunden hatte. Tee wurde überdies im 19. Jh. das Symbol für die heimische Atmosphäre fern der Öffentlichkeit. Soziale Schlagworte waren Kernfamilie und Privatsphäre. Dennoch – oder besser – genau deswegen wurde Tee als Nationalgetränk anerkannt. Tee und sein Konsum wurde im 19. Jh. egalitär und homogenisierte die Gesellschaft zu einem allgemein verstandenen Britischsein. Das intime Teetrinken zu Hause wurde so zu einem öffentlich diskutierten Spektakel. 
Tee stärkte nicht nur den individuellen Körper, sondern auch den entstehenden Nationalstaat. Je mehr Tee getrunken wurde, desto mehr strengte sich der Staat an Teegebiete zu erobern, desto mehr Briten konnten Tee trinken und stärkten wiederum den Kolonialstaat. Individuen und der Nationalstaat wurden so sozial, physisch, wirtschaftlich und politisch enger verbunden. Der Nationalstaat war kein theoretisches Konstrukt mehr, sondern ein organisches Wesen bestehend aus allen Teetrinkern. Die Bereiche Industrie, Gesundheit, Zufriedenheit und nationaler Wohlstand wurden durch Tee geprägt.
Parallel zur Verflechtung von Tee und Staatsvolk stieg die Angst vor falschem Tee. Je mehr der Tee britisch sein sollte, desto stärker fürchtete man sich vor angeblich schädlichen chinesischen Tee. Man sah hier Gefahren für Mensch und Staat. Dadurch dass die Natur und damit Gott in Indien Tee wachsen ließ und Briten ihn entdeckten, war es für die Meinungsmacher klar, dass es Gotteswille war, das England Indien zivilisieren musste. Denn niemand hätte gewettet, dass grade das Getränk welches den Alltag im Mutterland prägt, in der neuen Kolonie existierte. Damit wurde das Problem, dass ein chinesisches Produkt die britische Identität konstituiert gelöst. Einzig der britische Kunde musste von dem schlechten indischen Tee überzeugt werden. Dies war die Geburtsstunde des modernen Propaganda- und Werbeapparates. Jahrelang waren Zeitungen und Teeläden voll mit Pamphleten über die Schrecken von China-Tee und die Wohltaten des modern-industriellen Indien-Tees.
Tee machte England zu einem Reich ohne Grenzen. Überall wo man Tee trank war jedenfalls ideologisch England. Selbst Indern wurde durch Arbeit beim Teeanbau die Chance gegeben sich einen „alltäglichen Luxus“ wie Tee leisten zu können und damit Teil der britisch-kulturellen Welt zu werden. Tee, das ehemalige exotische Luxusgetränk war zum essentiellen täglichen Produkt geworden. Es stählte britische Körper und die Staatsmoral. Aus dem religiösen negativ behafteten Luxus wurde eine auch politisch wichtige Notwendigkeit. Tee Durchbrach als erstes in Europa die Grenze zugleich Luxus und alltägliche Ware zu sein.
Mehr: Julie E. Former: Deeply Indebted to the Tea-Plant: Representations of English National Identity in Victorian Histories of Tea, 2008, Cambridge University Press

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner